Nun denn - der Drops mit Schweden und Finnland ist wohl gelutscht.
Jetzt kommt es nur noch darauf an, welche Zugeständnisse der Herrscher vom Bosporus dafür bekommt. Ob militärischer Natur hinsichtlich der F-35 und der anderen blockierten Rüstungsexporte oder ein kleines Opfer in Sachen Menschenrechte, kurdische Vereine im Exil angehen, die YPG als Terrororganisation einstufen, den völkerrechtsfraglichen Einmarsch der Türken in Nordsysrien 2019 relativieren? Die einen nennen das Erpressung, die anderen sprechen von Konzessionen. Das ist Politik. Und so hat nun auch noch der Präsident Kroatiens "Vorbehalte" angemeldet. Mal sehen, wer noch ein par innenpolitische Punkte braucht.
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Die Gefahr eines 3. Weltkrieges kann ich nicht einschätzen, möchte ihn aber niemals erleben. Persönlich glaube ich auch nicht daran, sondern es werden wohl in der Zukunft immer mehr lokalere Kriege stattfinden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einen 3. Weltkreig bewusst heraufeskalieren will.
Immer mehr lokale Kriege hört sich aber auch nicht viel besser an, wenn man das als Zukunftsvision betrachtet. Zumal die Einschläge immer nächer rücken, die Begleiterscheinungen immer größere Außmaße annehmen.
Und eine These könnte auch dagegen sprechen. Wenn nämlich Staaten nun auf Grund des Ukraine Krieges das Gefühl haben, daß das Recht des Stärkeren (in Form einer Atom- oder Wirtschaftsmacht) zählt, wenn sie das Gefühl haben, zwischen den Blöcken zermalmt zu werden, dann werden diese zunehmend nach Bündnissen auf der einen oder anderen Seite (siehe bsw. Expansionspolitik Chinas im Südchinesischen Meer, bei der „Road and Belt Initiative“ und in Afrika inkl. militärischer Stützpunkte) suchen, was potentielle Kriege deutlich ausweiten könnte, wenn diese nicht verhindert werden. Und sie werden auch nach wirksamen Mitteln der Abschreckung wie Kernwaffen streben. Das gilt übrigens auch für Europa. Spätestens mit dem nächsten republikanischen Präsidenten der USA liegt das Thema der Beteiligung an der Selbstverteidigung Europas und Status der Allianz NATO wieder auf dem Tisch. Da bin ich mir ziemlich sicher, die Tendenzen in den Staaten, insbesondere bei den Republikanern gehen jedenfalls in diese Richtung.
Daß jemand einen dritten Weltkreig, deutlicher gesagt einen Atomkrieg, bewußt heraufeskalieren will, kann ich mir zwar immer noch nicht vorstellen. Aber in Hinblick auf den zukünftigen Status von NATO gegen Russland oder auch bei den Interessen Chinas, wo derzeit die Töne rund um Taiwan wieder schärfer werden, halte ich die Gefahr für größer, daß ein solcher "lokaler" Konflikt auch mal dahingehend eskalieren kann. Und sei es nur auf Grund von Paranoia, von gewagten und fahrlässigen Manövern, von Provokationen oder eines blöden Fehlers. Während des kalten Krieges war der Status ja eigentlich so, daß niemand das wirklich wollte, daß die gegenseitige Abschreckung funktionierte. Und trotzdem gab es einige Situationen abseits der Kuba-Krise, die sich innerhalb von Minuten abspielten, unbeobachtet von der Öffentlichkeit, wo man haarscharf an einer Eskalation vorbeigerutscht ist. Siehe Stanislaw Petrow.
Grundsätzlich würde mich die Erweiterung auch nicht interessieren oder stören aber unter den aktuellen Umständen bin ich absolut dagegen. Ich sehe keine mittelbare oder unmittelbare Gefährdung für die beiden Länder und allen voran deshalb nicht, weil sie Mitglieder der EU sind. Die Gemüter sind aktuell erhitzt und solche Aktionen provozieren nur noch mehr und helfen nicht zu einer Beilegung des Konflikts.
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Nachdem die russische Armee in der Ukraine die Hosen runtergelassen hat würde ich auch sagen, daß sie theoretisch derzeit keine mittelbare oder unmittelbare Gefährdung für die beiden Länder darstellt. Jedenfalls kann sie konventionell nicht gleich noch einen Krieg hinterherschieben. Andererseits hatte auch niemand damit gerechnet, daß Russland in 2022 die Ukraine überfällt. Also machen Schweden und Finnland nun Nägel mit Köpfen, nutzen das zeitliche Fenster und geben Russland zu verstehen, daß in Zukunft bei ähnlichen Überlegungen wie jetzt zur Ukraine mit Artikel 5 des Nordatlatikvertrages zu rechnen ist, daß hier ein feststehender Preis zu zahlen wäre. Ich kann das schon verstehen und letztendlich entspringt diese Entscheidung ja auch der finnischen und schwedischen Ansicht von guten oder bedrohlichen Nachbarn. Trotzdem finde ich die ganze Entwicklung auch nicht wirklich prächtig.
Man muß nun sehen, wie man das ausgestaltet. Wenn die NATO massenhaft Atomraketen und US-Kampftruppen an der finisch-russischen Grenze stationiert, ist das sicher nicht besonders klug. Und das braucht es meiner Meinung nach auch nicht und ist bisher auch nicht vorgesehen.
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Außerdem hätte ich vor allem von Schweden erwartet, dass sie die Bevölkerung näher einbinden, einen öffentlichen Diskurs führen etc.
Vielleicht ging das jetzt alles ziemlich schnell, das bemängeln ja auch die Gegener und Skeptiker eines NATO-Beitritts in Schweden selbst. Aber was Schweden insgesamt anbelangt, so gibt es dort eigentlich schon seit Jahrzehnten eine Debatte, inwieweit man sich zur NATO hinbewegt, wo man die Linien zieht, ob man Kooperationen ohne oder mit Bündnisverpflichtungen eingeht. Es gibt ein ziemlich widersprüchliches Meinungsbild, was auf der einen Seite eine sehr positiv betrachtete Integration in eine europäische Verteidigung und auf der anderen Seite eine eher skeptische Integration in die NATO-Verteidigung angeht, was teilweise mit der Beistandspflicht zu tun haben mag. Es gibt eine Diskrepanz zwischen offizieller sicherheitspolitischer Leitlinie und politischen Realitäten.
Bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik trat in den letzten Jahren deshalb auch der "Neutralistätsbegriff" zunehmend in den Hintergrund bzw. wurde durch den Begriff der militärischen Allianzfreiheit ersetzt. Man ist einserseits in der EU engangiert, schwedische Soldaten stehen zeitweise unter EU- und NATO-Kommando, andererseits war man mit den Beistandsverpflichtungen nie wirklich glücklich.
Es ist auch so, daß Schweden trotz seiner offiziellen Neutralität schon lange mit der NATO kooperierte. Das begann im Kalten Krieg, da Schweden schon damals die Sowjetunion und deren "agressive" Außenpolitik als die größte Bedrohung des Landes ausmachte, als man heimlich mit den USA und Großbritannien beim Bau von Landebahnen für NATO-Flugzeuge im Ernstfall kooperierte. Eine solche Zusammenarbeit gab es mit der SU nicht. Wäre der Kalte Krieg damals eskaliert, wäre Schweden trotz seiner Neutralität wohl kaum verschont geblieben. Und seit 1990 arbeitet Schweden auch offiziell mit der NATO militärisch und geheimdienstlich zusammen. Von den offiziellen Manövern zusammen mit der NATO bis hin zu Operationen des Nachrichtendienstes FRA, der dann auch schonmal russischen Kabel für die NSA anzapft. In Schweden selbst sprach man von einer Neutralität, die pro-westlich ist.
Letztendlich hat Putins Handeln nur dafür gesorgt, daß die Debatte innerhalb Schwedens in einer sehr kurzen Zeit eine kleine aber entscheidende Wendung nahm und erstmals wirklich am Kodex der Neutralität und der militärischen Allianzfreiheit gerüttelt wird. Deshalb finde ich den schwedischen Weg auch nicht so tragisch. Theoretisch müßte Putin sich selbst mit einem Gasembargo für diese Tölpelei belegen und nicht Finnland.
Aber gut. Das ist ja alles nicht in Stein gemeißelt und für die Ewigkeit. Russland wird es weiterhin geben und in Zukunft wird man auch wieder miteinander reden. Ob nun mit oder ohne Putin, ohne Russland gibt es schlichtweg keine Sicherheitsarchitektur. In den nächsten Jahren kommt es wahrscheinlich erstmal zu einer Aufrüstung auf allen Seiten. Aber irgendwann wird man an einen Punkt gelangen, wo alle Seiten nachdenken werden und vielleicht wieder der Gedanke überwiegt, daß das auch nicht die Lösung sein kann, daß gegenseitige Kooperation eventuell doch der besser Weg ist.